Ein letzter glücklicher Sommer: Johanna Weile (links) mit ihrer kleinen Nichte Ruth im Juli 1938. Johanna überlebte später Auschwitz, Ruth wurde vergast. Foto: Afke Berger
„Das habe ich nicht gewusst“. Eine Lüge, mit der die Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Wissen um Erniedrigung, Entrechtung und Ermordung der Juden zu kaschieren versuchten. Einige Betrachtungen dazu anhand des Schicksals der Johanna Weile aus Schlochau (heute: Człuchów) – insgesondere im Hinblick auf den 9.11.1938.
Ende April 1945. Eine einsame Landstraße bei Riesa an der Elbe. Die SS-Mörder fliehen und lassen ein Bündel Häftlinge zurück. Näher dem Tode als dem Leben. Todesmärsche. Tote. Keine Nahrung. Nichts zu trinken. Mehrere Tage bleiben die geschwächten Häftlinge alleine. Dann befreien sie die Russen. Darunter Johanna Weile, 41 Jahre alt. 1957 schrieb sie an das Entschädigungsamt in Berlin, dass sie „nur noch ein Hauch von Mensch war“. Aber sie war wieder frei.
Freiheit? Freiheit kennt Johanna Weile schon lange nicht mehr. Am 20. April 1943 tätowieren ihr Häftlinge in Auschwitz die Nummer 42023 in den linken Unterarm. Sie überlebt die Massenmordmaschinerie, ihr Ehemann Norbert muss sich in Auschwitz-Monowitz zu Tode arbeiten. Er wird im Dezember 1943 umgebracht. Im Januar 1945 starten die Todesmärsche. Wer die kleinste Schwäche zeigt, wird sofort erschossen. Irgendwie überlebt Johanna Weile bis Ravensbrück. Es geht weiter nach Malchow. Es geht weiter nach Leipzig. Es geht weiter ins Nirgendwo. Bis zur Landstraße bei Riesa.
Gezeichnet überlebt Johanna. Einmal in Auschwitz gerät sie in die wütenden Fäuste der SS-Aufseherin Elisabeth Hasse – bis mehrere Zähne fehlen und Johanna Weile ohnmächtig zu Boden geht. Erfrierungen, Hunger, Arbeit verzehren den gesunden Körper von Johanna Weile. Und brennen unsagbare Schmerzen in die Seele. Tagtäglich erlebt sie den Massenmord in Auschwitz, sieht die leuchtenden Schornsteine der Krematorien, riecht die verbrannten Menschen. Später klären sich nach und nach die Schicksale der Familie auf.
Der geliebte Ehemann Norbert Weile: Als die Eheleute den Zug in Auschwitz verlassen am 20.4.1943, trennen sich die Wege. Norbert muss sich in Auschwitz-Monowitz fast zu Tode arbeiten. Am 13.12.1943 wird er aus dem Lagerlazarett Monowitz ins KL Auschwitz Stammlager verlegt und sofort ermordet.
Die Eltern Leopold und Cäcilie Schwarzmann: Deportiert aus Beuthen am 2. Juni 1942. Vermutlich in Auschwitz ermordet.
Schwester Jetty (Henriette) Neuding: 10.5.1942 vergast im Gaswagen von Chelmno.
Bruder Martin Schwarzmann: Inszenierter Selbstmord im Konzentrationslager Dachau am 6.6.1941.
Fast die komplette Familie des Ehemanns wird ermordet. Johannas Schwester Rosa Goldmann überlebt in der Illegalität mitten in Deutschland, Bruder Ernst Schwarzmann im Exil in Shanghai und Schwester Lotte (Charlotte) Simmenauer im Exil in Chicago.
Gesund wird die Gezeichnete nie wieder.
Die Gezeichnete: Das Foto zeigt Johanna Weile im Herbst 1945 im Ausweis als anerkanntes Opfer des Faschismus in der Akte des Entschädigungsamtes Berlin. Foto: Dr. Jan Schlösser
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Zurück zum 9.11.1938.
Norbert und Johanna Weile betrieben in Schlochau eine Landwirtschaft und eine erfolgreiche Rohproduktenhandlung. Nur etwa 2 Prozent der Bevölkerung waren Juden, dennoch gab es offenen Antisemitismus schon vor 1933. Zum 9.11.1938 in Schlochau gibt es zwei Schilderungen – aus Opfer- und Täterperspektive. Anlass des angeblich spontanen Volkszorns war das Attentat des polnischen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in der Deutschen Botschaft auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath. Dieser erlag am 9. November seinen Verletzungen.
Das Opfer, Johanna Weile, schrieb dem Entschädigungsamt in Berlin am 5. August 1957 folgende Zeilen: „Am 9. November 1938 wurde auch mein Ehemann plötzlich verhaftet und nach dem Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Ich selbst musste als Geisel zusehen, wie die Synagoge in Schlochau von der SS in Brand gesteckt wurde. Nach Beendigung dieses Brandes konnte ich wieder in mein Haus zurückkehren. In meiner Abwesenheit war meine gesamte Wohnung demoliert und geplündert sowie die Fensterscheiben eingeschlagen worden. Diese menschenunwürdige Handlung verursachte bei mir einen vollständigen Nervenzusammenbruch.“ (Die Rechtschreibung wurde angepasst) Norbert Weile wurde am 23.12.1938 wieder entlassen und musste sich fortan wöchentlich bei der Gestapo melden.
Die Täterperspektive liefert der NS-Funktionär Werner Koch aus Schlochau, der am 30.11.1938 genussvoll den Monat November zusammenfasste: „In der Nacht vom 9. zum 10. November gingen in ganz Deutschland die Tempel des Wüstengottes Jehova in Flammen auf. So auch die Synagoge in Schlochau. Am 10. November wurden sämtliche Wohnungen der Juden gestürmt. Ich war mit dabei, denn die SS ging mir dabei doch zu lasch und lau gegen die Juden vor. Ich kann sagen, dass unter meiner Führung die SS dann gründlich aufgeräumt hat. Wir haben kräftig Rache für den ermordeten von Rath genommen!! Nichts haben wir heil gelassen! 63 Juden wurden in Schutzhaft genommen und nach Sachsenhausen bei Oranienburg ins Konzentrationslager gebracht. Bei dieser Aktion habe ich gesehen, welche Reichtümer, welche Mengen von auserlesenen Stoffen, von Schuhen, von Lebens- und Genussmitteln die Juden in ihren Wohnungen aufgestapelt hatten. Nachmittags mussten die Wüstensöhne, nur mit Hemd und Hose bekleidet, ohne Hosenträger dafür aber mit Schildern versehen, die die Aufschrift trugen: „Wir sind Landesverräter“ durch die Stadt marschieren. Diese Volkswut hatte das Judentum doch nicht erwartet! Am 11. November sprach ich dann [am] Marktplatz in einer öffentlichen Kundgebung. Noch 2 Tage danach war ich stockheiser.“
Das Tageszeitung „Schlochauer Kreisblatt“ berichtete am 12.11.1938 über die von Werner Koch erwähnte Kundgebung vor den so genannten Volksgenossen: „Redner war Kreispropagandaleiter Koch. Kurz und klar, völlig eindeutig waren seine Ausführungen, die mit Zustimmung aufgenommen wurden. Der Jude, der ewige Feind unseres Volkes, weiss nun, dass wir feigen Meuchelmord nicht ungesühnt lassen. Wir haben durch die letzten Geschehnisse bewiesen, dass wir „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ vergelten. […] Jedem einzigen muss klar werden, was gespielt wird, alle müssen wissen, dass jeder deutsche Mensch zu der grossen Schicksalsgemeinschaft gehört, die auf Gedeih und Verderb zusammenhalten muss. Wer sich ausschliesst, ist ein Verräter am eigenen Volke. Wir können keine sentimentalen Weichlinge gebrauchen, die falsches Mitleid mit den Volksfeinden zeigen, denn es ist auf keinen Fall am Platze, weil nicht einem Juden auch nur ein Haar gekrümmt worden ist. Unser Zorn war ehrlich, war völlig berechtigt, und der Jude würde uns, wenn wir die Unterdrückten wären, bestimmt nicht so zart angefasst haben, wie wir es taten. Wir müssen weiterhin wachsam bleiben, sehr wachsam, denn der Feind ist wohl geschlagen, doch der Kampf ist noch nicht zuende.“
Die Vorgänge in Schlochau beschreiben kein Extremszenario, sie stehen exemplarisch für die Terrornacht gegen die jüdische Bevölkerung in ganz Deutschland. Überall brannten die Synagogen. Überall drangen die Nazi-Banden in die Häuser der Juden ein, verprügelten und verhafteten die Männer, zerschlugen die Einrichtung und nahmen sich, was sie wollten. Das geschah in aller Öffentlichkeit. Für alle Deutschen sichtbar. Zynisch klingt da der Satz: „Das habe nicht gewusst.“
Als die Juden deportiert wurden, kümmerte sich eine stattliche Anzahl von Verwaltungsangestellten um den letzten Raub an den Opfern. Diese mussten eine Vermögensaufstellung abliefern, so dass sie im Moment der Deportation bequemer enteignet werden konnten. Haus und Hof wurde verschachert. Um den restlichen Besitz der Beraubten überboten sich die Volksgenossen in genauestens protokollierten Versteigerungen. Das geschah in aller Öffentlichkeit. Im Falle von Familie Weile aus Schlochau ist zudem zu befürchten, dass sich die „neuen“ Besitzer nach der Vertreibung 1945 vom deutschen Staat entschädigen ließen.
Johanna Weile zog im Juni 1945 nach Berlin. Im August 1945 füllte sie einen Fragebogen der jüdischen Gemeinde aus. Bei der Frage „Welche Existenzeinbusse haben Sie erlitten?“ schrieb sie ehrlich: „Alles.“ 1946 wanderte Johanna Weile in die USA. Ihre frühere Heimat sah sie nie wieder.
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Ohne Hinweise und die Zuarbeit von Afke Berger, Dr. Jan Schlösser, Fabian Müller, Silvana Krautz und Theresa Rossmann wäre dieser Beitrag nicht möglich gewesen. Vielen Dank!
Quellen:
– Entschädigungsamt Berlin, Reg.Nr. 338037, Johanna Caminer
– Entschädigungsamt Berlin, Reg.Nr. 53924, Norbert Weile
– Entschädigungsamt Berlin, Reg.Nr. 502604, Lotte Simmenauer
– KZ-Gedenkstätte Dachau, NARA Zugangsbuch Nr. 109 / 017561
– KZ-Gedenkstätte Dachau, Sterbeurkunde Dachau 1941 0063S
– Centrum Judaicum Berlin, CJA, .5 A 1, Nr. 141, Fragebogen Johanna Weile, Bl. 12467
– Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Akten des Häftlingskrankenbaus Monowitz
– Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Sonderliste: Juden-Entlassungen am 23. Dezember 1938, Archiv Sachsenhausen: D 1 A/1020, Bl. 547
– Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Anweisung der Politischen Abteilung vom 23. Dezember 1938, Archiv Sachsenhausen: D 1 A/1022, Bl. 575
– Czarnik Andrzej, Z dziennika hitlerowskiego propagandysty. Zapiski Wernera Kocha z Człuchowa z lat 1936-1941, Słupsk 1998
– Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933-1945), abrufbar im Internet unter: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/